home  cast  abstract  outline  concept  worlds  staging strategies
Virtuelle Realität? Das sind doch diese kleinen, quietschbunten, geometrischen Häuser und Bäumchen im Computer. Hier kann ich irgendwo meine Banküberweisungen erledigen, und dann mit meinen Kumpels aus den Staaten durch die Gegend surfen. In Amerika haben die Leute zu diesem Zweck Datenhelme. Die sind zwar nicht so bequem, aber dafür bist Du gleich mittendrin in der dreidimensionalen Cyberwelt.

War’s das etwa???

VR Prototyp
Wir haben uns gefragt, aus welchen Komponenten sich eine Virtuelle Welt grundlegend zusammensetzt. Was sind die Ausgangsbedingungen? Aus welchem Stoff sind die bunten Häuser und Bäumchen gemacht?

Bei Bildern scheint das einfach. Man nehme Farbe, Form und Komposition. Mondrian oder Kandinsky. Und die verschiedenen Wahrnehmungsperspektiven. Kubismus.

Der Grundbaustein einer virtuellen Welt ist dynamische Information. Ereignisse (oh, jemand klickt mich an) Daten. Alles fließt und bewegt sich. Wie bildet man das ab? Welche sinnlich wahrnehmbaren Ereignisse stehen in der Virtuellen Realität zur Verfügung?

Der Tastsinn fehlt, aber es gibt Klänge und Farben, Abläufe, Elemente verändern sich. Ein Besucher bewegt sich auf vermintem Gelände: beim Vorbeifliegen hupt es, beim Anklicken wechselt eine Farbe. Objekte besitzen simulierte Materialeigenschaften wie Gewicht oder Festigkeit.

Insgesamt ergeben sich hieraus fünf grundlegende Kategorien von Wahrnehmungsereignissen:

• Animation (Verformungen und Bewegungen)
• Codierung (Schalter und Bewegungsmelder)
• Farbe
• Klang (Töne)
• Simulation (simulierte Materialeigenschaften).

Diese Komponenten stehen zur Verfügung, um Ereignisse in einer virtuellen Welt zu gestalten.

Ein wechselndes räumliches Muster aus Klängen und Bildern entsteht, bewegt und interaktiv. Damit haben wir die mimetische Abbildungstradition verlassen: kein Nachbau von Häuschen mehr. Ich erlebe die Welt als eine Sinfonie aus Ereignissen.

Navigation

In einer abstrakten Welt gibt es weder Oben noch Unten, keinen Boden, keinen Horizont. Alles verändert sich mit meiner Bewegung. Was eben noch oben war, ist jetzt rechts. Wie orientiere ich mich in der virtuellen Realität?

Mit Metermaß, Straßenschild und Stadtplan durch den virtuellen Raum: Ein 3D-Modeling-Programm zeigt zur Orientierung ein Raster im Raum, X-, Y- und Z-Achsen. Virtuelle Welten im Internet besitzen oft ein virtuelles Oben und Unten, einen Boden und einen Horizont. Die Orientierung wird damit nur durch ein äußeres Referenzsystem ermöglicht.

Wir verzichten jedoch bewußt auf die Landschaftsmetapher, die mimetische Wiedergabe mit ihren Beschränkungen. Wir wollen die spezifische Freiheit der virtuellen Realität nutzen.

Setzungen wie: »Größe des Innenraums ist gleich der Größe des umschließenden Gebäudes« oder »nur ein Objekt an einer Stelle« verlieren damit ihre Bedeutung. Außerdem ist es mehr als lästig, zur Orientierung unentwegt ein Raster, das Meßgerät, die Wasserwaage im Auge zu behalten.

Was passiert, wenn ich meiner virtuellen Welt kein äußeres Referenzsystem mitgebe? Wie kann ich mich dann orientieren?

Wir sind dieser Frage nachgegangen. Wenn ich ohne Stadtplan durch Berlin laufe, wie finde ich mich zurecht?

Der Bäcker mit den guten Brötchen, und der Baum, unter dem ich einen Freund kennengelernt habe, bilden Bezugspunkte. Kaum bin ich am Bäcker vorbei, sehe ich den Baum. Geschafft! Es ist nicht mehr weit bis zum Supermarkt.

Bezugssystem

Jeder Anwender schafft sich ein individuelles Bezugssystem, wenn er die Welt erforscht. Dabei wählt er seinen Weg durch unterschiedliche Erlebnisräume, die wie Paralleluniversen ineinandergeschachtelt sind: Eine große blaue Welle spült mich hinweg. Plötzlich durchdringt ein rotes Blinken mein Bewußtsein. Dann ist Ruhe. Oh, wenn ich klicke, fangen die Flächen an zu vibrieren!

So erlebt jeder Anwender ein Konzert aus unterschiedlichen Wahrnehmungen. Dabei verwendet er erinnerte Zusammenhänge und Assoziationen zur intuitiven Orientierung im Raum. Er verbindet die Erlebnisse mit Objekten, die er in allen Universen wiedererkennt.

Oben, unten, vorne und hinten verlieren an Bedeutung. Wichtig sind die erlebten räumlichen, zeitlichen und inhaltlichen Beziehungen. Unsere virtuelle Welt besitzt ein inneres Referenzsystem, das sich jeder Anwender selbst erarbeiten muß.

Der Weg eines Anwenders durch die virtuelle Welt könnte vom Computer gespeichert werden. In absoluten Begriffen, X-, Y- und Z-Koordinaten. Dabei werden keine Informationen über das persönliche Referenzsystem erfaßt. Unterschiedliche Wahrnehmung, Konzentration auf bestimmte Aspekte, spezifische Assoziationen „ dieses Raumerlebnis kann der Computer nicht protokollieren.

Die virtuelle Welt hat kein Gedächtnis für die Erfahrungen eines Anwenders. Der Mensch erlebt und muß sich selbst erinnern.

©programm 5  p5@p5-berlin.de  lilian jüchtern  nicole martin  09/1997